Vater-Sohn-Transalp

Mein 13-jähriger Sohn Mio (13) hat nur eins im Kopf. Mountainbiking. In Zeiten, in denen nichts mehr planbar ist, wird sein Traum wahr: Eine Alpenüberquerung vom Bodensee zum Lago Maggiore.

Zwei Räder, zwei Rucksäcke 

Manchmal braucht es Umwege, um das Naheliegendste zu finden: Die Corona-Pandemie hat jeglichen Alltag und somit auch all unsere Reisepläne durcheinandergewirbelt, nichts war mehr planbar, alles ist in sich zusammengestürzt, was beweglich war, wurde verschoben. So ähnlich stelle ich mir die Entstehung der Alpen vor: Da kommt ein mächtiges Etwas – in diesem Fall die afrikanische Kontinentalplatte – das den Ist-Zustand komplett durcheinanderbringt und neu formiert. So erging es auch unseren Sommerreiseplänen. Kurz vor Ferienbeginn sind mein Sohn Mio und ich uns einig: Eine Transalp, sonst nichts!

„Sonst nichts“ bedeutet auch: kein eigenes Auto, keine Gepäckmassen, keine festgelegte Tour, kein Zeitplan, keine gebuchten Übernachtungen – nichts außer zwei Räder, zwei Rucksäcke, ein Ziel. Mein Vater muss in Süddeutschland etwas erledigen und ist prompt unser Taxi zum Bodensee. Mit ihm habe ich vor weit über 30 Jahren meine ersten Gipfel bestiegen, Momente die mich mein ganzes Leben lang prägten. Ja, das Leben ist ein Kreis und wenn man’s laufen lässt, läuft’s rund. Meistens.

Wir starten nachmittags in Lindau. Ein kurzes „Viel Glück, passt auf Euch auf!“ und schon sind wir über die Grenze nach Österreich geradelt. Neben dem immer nur kurz pausierendem Dauerregen begleitet mich die Frage, ob wir für eine Alpenüberquerung nicht doch viel zu viel Gepäck dabei haben. Wir ist gut – ich! Mio hat nur einen kleinen 4 Kilo-Rucksack und seinen dafür umso größeren Helm dabei. Neben dem 14 Kilo-Rucksack und der Kamera habe ich in den Packtaschen am Lenker das Zelt und am Sattel die beiden Isomatten und Schlafsäcke. Auf Hüttenübernachtungen wollen wir verzichten. Um Corona aus dem Weg zu gehen, die Natur mehr genießen zu können, und ja auch das – um in der Schweiz nur Geld fürs Essen nicht aber fürs Schlafen auszugeben.

Absolute Stille und die Milchstraße

Die ersten beiden Tage, eigentlich zum „Aufwärmen“ gedacht, sind kalt und nass. Entlang des Rheins, vorbei an Liechtenstein, dringen wir immer tiefer in die Alpen ein, wenn auch noch recht unspektakulär auf dem bestens ausgebauten Rheinradweg. Zumindest die Betonbunker vergangener Grenzkonflikte bieten Mio reichlich Gelegenheit, seine Fahrgeschicke auf die Probe zu stellen.

Pünktlich zum dritten Tag erreichen wir die Rheinschlucht (Ruinaulta) und gönnen uns einen Pausentag. Eine befreundete Schweizer Familie ist gerade zum Wildwasserfahren in der Gegend und nimmt uns kurzerhand in Ihren „Gästebooten“ mit auf Tour. Die Einladung, sie am nächsten Tag in den Bikepark in Flims zu begleiten können wir nicht ablehnen, vor allem nicht, wenn man das Leuchten in Mios Augen sieht. „Für die langen anspruchsvollen Trailabfahrten, die uns auf der Tour bis zum Lago Maggiore noch bevorstehen ist es DAS perfekte Training“, überzeugt er mich grinsend.

Rafting auf einem Gebirgsfluss

Das Grinsen vergeht ihm am Tag darauf ähnlich schnell wie seine Abfahrten im Bike-Eldorado. Nun heißt es Höhenmeter strampeln, entlang des malerischen Valser Rheins bis nach Lumbrein, um unterhalb des Piz Sezner an einem einsamen See unser Nachtquartier auf über 2100 m aufzuschlagen. Hier bekommen wir endlich unsere Sehnsüchte nach absoluter Stille und Milchstraßen-Sternenhimmel gestillt. Während Mio halbwegs ausschlafen darf, am Vorabend sind wir bis 22 Uhr gefahren, erklimme ich gemeinsam mit der aufgehenden Sonne den Piz Sezner und genieße das 360° Panorama.

Die Idylle ist so überzeugend, dass wir eigentlich das Tempo drosseln würden. Aber die Wettervorhersage treibt uns an: Ein Wetterwechsel mit heftigen Gewittern ist für den übernächsten Tag um 12 Uhr prognostiziert, und vorher sollten wir dringend noch über den Hauptkamm der Alpen, in unserem Fall den Passo del Lucomagno. Man könnte ihn natürlich auch Lukmanierpass nennen, aber da er die Grenze zum italienischen Sprach- und Kulturraum ist, klingt seine italienische Form natürlich weitaus reizender.

Junge mit Mountainbike trifft Kuh

All die Höhenmeter des Vortages sind wir in Windeseile über Wiesen- und Waldtrails wieder talwärts „geflogen“, vor allem Mio scheint wirklich mehr in der Luft als auf dem Boden unterwegs zu sein. Und das liegt nicht nur am geringeren Gewicht. Ich kann froh sein, wenn ich ihn weit vor mir überhaupt noch als Silhouette erkennen kann. Das väterlich hinterhergerufene „Fahr vorsichtig!“ kann ich mir nicht abgewöhnen.

Pünktlich wie der Schweizer Wetterdienst

Es zeigt sich mittlerweile, dass es die richtige Entscheidung war, nicht die überlaufene Albrecht-Route von Garmisch zum Gardasee zu nehmen, sondern diese eher unbekanntere Route, wir haben die gesamten Trails ganz für uns allein. Abgesehen von den Murmeltieren, Rehen, Füchsen, Almkühen, Adlern und all den anderen Tieren, denen wir begegnen.

Zurück im Vorderrheintal wird die Hitze immer drückender und wir kommen trotz kaum erwähnenswerter Steigung nur schleppend bis nach Disentis/Mustér voran, wo unsere Route ins Tessin abzweigt. Stundenlang verbringen wir im eiskalten Rheinwasser, das uns von den verschiedenen Quellarmen des später längsten Flusses Deutschlands entgegensprudelt. Als dann die Sonne gegen frühen Abend hinter den imposanten Bergkämmen verschwindet, nehmen wir endlich den Passo del Lucomagno in Angriff. Erst zum Einsetzen der Finsternis schlagen wir auf einer Wiese unser Zelt auf, kurz hinter einem der vielen Hinweistafeln, wie man sich bei Begegnungen mit Wölfen verhalten soll. Unser Proviant bleibt diese Nacht luftdicht verschlossen in meinen Packtaschen am Rad, weit weg vom Zelt. Pünktlich zum Sonnenaufgang sitzen wir schon wieder im Sattel, das Ziel: die restlichen 600 Höhenmeter über die europäische Hauptwasserscheide müssen geschafft sein, bis die Gewitter um 12 Uhr Ihre imposanten Naturkräfte unter Beweis stellen.

Zelt mit Rad in den Alpen

Wir sind schnell. Die Wolkentürme werden schwarz. Wir werden immer schneller. Die Wolkentürme werden immer schwärzer. Um kurz vor zehn sind wir mit erstaunlichem zeitlichen Vorsprung auf der Passhöhe, um Punkt zehn Uhr stehen drei Stück Torte mit Sahne zum Frühstück vor uns. Und als es dann auf den Wiesentrail-Abfahrten auf der Südseite der Alpen zu regnen beginnt, wissen wir, dass man seine Uhr nach dem Schweizer Wetterdienst stellen kann – es ist exakt 12 Uhr! Und wir haben es geschafft. Wir sind ÜBER die Alpen geradelt! Zur Feier des Tages gibt es ein Gewitterspektakel, wie ich und Mio es selten zuvor erlebt haben, die Berge beben förmlich. Aber wir sitzen schon wieder vor köstlichsten italienischen Gerichten. Kost und Logis – auf dieser Reise fließt alles in die Kost, da kann das Gewitter toben wie es will.

Das einzig blöde am Unwetter ist, dass die folgenden Wurzeltrails und Natursteintreppen im regennassen Zustand derart herausfordernd sind, dass wir oft fluchend schieben müssen. Und was ein 13-jähriger Downhill-Junkie darüber denkt, zuvor Hochgeschwitztes nun hinunterzuschieben, kann man sich wortgewaltig ausmalen. Aber die farbenfrohe Südalpenkultur, die kleinen malerischen Bergdörfer, die blühenden Esskastanienwälder, die Lebenslust der Dolce Vita und die unzähligen besten Pizzen der Welt besänftigen uns genauso wie die Tatsache, dass es ab jetzt zum Lago Maggiore nur noch bergab geht. Als wir am Abend des 10. Tages bei Freunden mit Blick auf den See am Lagerfeuer sitzen sind sich Mio und ich absolut einig:

Jens Steingässer und Sohn Mio beim Bikepacking

Das war sicher nicht die letzte gemeinsame Transalp, aber sicherlich die letzte auf der ich fitter als Mio war. Das Leben ist ein Kreis und wenn man’s laufen lässt, läuft’s rund. Meistens.