Taylor Ganz ist Wildökologin und arbeitet am Predator-Prey Project, einem Forschungsprojekt der University of Washington und des Washington Department of Fish and Wildlife. In diesem Zusammenhang untersucht sie, wie sich die Rückkehr des Wolfes auf das Ökosystem auswirkt. Mit ihrer Expertise über die Wölfe im amerikanischen Westen unterstützte Taylor den Wildtierfotografen Ronan Donovan bei seiner Discovery Mission für Jack Wolfskin im Yellowstone-Nationalpark (mehr über dieses Abenteuer könnt ihr hier lesen).
Wir haben mit Taylor über den Einfluss des Menschen auf die Natur gesprochen, darüber, warum es problematisch ist, Tieren menschliche und moralische Werte zuzuweisen, und über das seltene, positive Phänomen der rückkehrenden Wölfe.

Wo bist du aufgewachsen?
In Los Angeles, aber von dort bin ich dann mit 14 Jahren auf eigenen Wunsch weggezogen und an der Ostküste auf ein Internat gegangen. Seitdem bin ich so ziemlich überall herumgekommen. Ich habe viel Zeit in Colorado und Idaho verbracht. Fünf Jahre lang war ich in Lander, Wyoming stationiert. Jetzt wohne ich in Seattle, aber ich verbringe etwa die Hälfte des Jahres in Ost-Washington, um dort zu forschen.
Warum wolltest du freiwillig auf ein Internat gehen?
Weil L.A. nicht mein Ding war. Ich bin kein Stadtmensch. Ich habe Städte wirklich zu schätzen gelernt und ich liebe es, nach LA zurückzukehren und meine Familie dort zu besuchen. Ich liebe das Essen und die Musikszene, aber letztendlich fühle ich mich am wohlsten und bin am glücklichsten, wenn ich draußen bin, sei es bei der Arbeit oder in meiner Freizeit.
Wusstest du als Kind schon, dass die Stadt nichts für dich ist?
Ich glaube schon. Ich hatte das Glück, viel draußen zu unternehmen. Und das hat mich immer beeindruckt. Als Kind war ich oft Angeln und Skifahren und wusste früh, dass ich Outdoor-Aktivitäten mehr in mein Leben einbringen wollte. Ich wusste nicht sofort wie, aber ich bin schon solange ich zurückdenken kann, outdoor-orientiert gewesen.

Wenn man die Natur als Kind intensiv erlebt, scheint sie einen nie zu verlassen. Du hast deine Liebe zur Natur zum Beruf gemacht. Ich habe gehört, früher warst du Skitourenführerin?
Während meines Studiums habe ich den ganzen Sommer über im Freien gearbeitet, und als ich das College abgeschlossen hatte, habe ich, anstatt meinen Studienfächern zu folgen, bei der NOLS, der National Outdoor Leadership School, angefangen. Dort habe ich in verschiedenen Bereichen gearbeitet: Rucksacktourismus, Fliegenfischen, Skifahren, Fels- und Alpinklettern und Bergsteigen. So konnte ich wirklich viel von Wyoming und dem gesamten amerikanischen Westen erkunden. Im Winter habe ich viele Skitouren im Hinterland gemacht sowie Wintercamping.
Das klingt nach Freiheit. In welchen Situationen fühlst du dich gefangen, gelangweilt oder frustriert?
Sich mit der administrativen Seite von Projekten zu beschäftigen, ist nie besonders aufregend. Das ist zwar notwendig und wichtig, aber es macht nicht so viel Spaß wie die Arbeit vor Ort, das Sammeln von Daten, das Entwickeln spannender Forschungsideen oder die Analyse der Daten. Es ist wirklich aufregend, zu sehen, was man herausfindet, und die erste Person zu sein, die aus den Daten erkennt, was sie bedeuten.

Gab einen Moment, in dem du beim Analysieren deiner Daten eine besonders spannende Erkenntnis gewonnen hast?
Einer der interessantesten Forschungsbereiche, mit denen ich mich in letzter Zeit beschäftigt habe, ist die Untersuchung der Auswirkungen verschiedener Raubtierarten auf Rehe. Zu untersuchen, wie diese Raubtiere interagieren, ist ein wichtiger erster Schritt, um herauszufinden, was das für Rehe bedeutet. So haben wir unter anderem festgestellt, dass Kojoten in großem Maße Gebiete zu meiden scheinen, in denen sich Wölfe aufhalten. Das bedeutet, dass Wölfe nicht nur durch das Töten und Fressen Auswirkungen auf Rehe haben, sondern auch durch ihren Einfluss auf die Kojotenpopulation, die ebenfalls Rehe töten und fressen. Wir müssen also diese indirekten Auswirkungen in Betracht ziehen, was ich sehr spannend finde. Bei allen Überlegungen zu Wechselwirkungen zwischen Raubtieren und Beutetieren müssen wir jegliche Faktoren berücksichtigen: die Nahrung, die diesen Tieren zur Verfügung steht, aber auch Menschen und Raubtiere, die sie töten und fressen könnten. Und dann die Art und Weise, wie all diese verschiedenen Elemente zusammenwirken. Das ist komplex, aber wirklich interessant. Man muss all diese Zusammenhänge und Auswirkungen verstehen, sonst kann es passieren, dass man einen Faktor ändert und dann ein unerwartetes Ergebnis erhält.

Was wäre ein unerwartetes Ergebnis?
Ein Beispiel aus dem amerikanischen Westen ist, dass die Leute keine Kojoten in ihrer Umgebung haben wollen. Sie sehen Kojoten als Schädlinge an, aber wenn sie sie aktiv entfernen, könnten die Nagerpopulationen drastisch ansteigen. Das wiederum könnte für die Ernte problematisch sein. All diese Faktoren sind miteinander verknüpft. Wenn man an einem Teil des Systems etwas ändert, könnte etwas anderes darauf reagieren.
Welche Beziehung besteht zwischen der Natur und unserem menschlichen Einfluss auf sie?
Das ist eine interessante Frage, denn man muss sich entscheiden, ob man den Menschen als Teil der natürlichen Welt betrachtet oder nicht.
Tust du das?
An manchen Orten ist das sehr wohl der Fall, und der Mensch ist Teil eines ausgewogenen Ökosystems. Ein Paradebeispiel dafür sind die indigenen Völker, die hier seit Tausenden von Jahren leben und in der Lage waren, in einem dynamischen Gleichgewicht mit diesen Wildtierpopulationen zu leben. Ich glaube, dass das heute weniger der Fall ist. Wir haben einen sehr starken Einfluss auf viele Wildtierpopulationen, aber es ist schwierig, eine Grenze zu ziehen. Wo ist diese Grenze?
Gibt es in deiner Region Beispiele, bei denen der Einfluss des Menschen auf das Ökosystem und die Arten deutlich spürbar ist?
Ja. Das Gebiet, in dem ich arbeite, ist interessant, weil es so viele menschliche Aktivitäten gibt. Das Spannende an unserem Predator-Prey Project ist, dass wir das Thema aus vielen verschiedenen Perspektiven betrachten. Unsere Studie läuft noch nicht lange genug, um einen echten Vorher-Nachher-Vergleich anstellen zu können. Das braucht sehr viel Zeit. Aber in den Gebieten, in denen ich arbeite, sehen wir viele menschliche Einflüsse durch die Holzernte. Wir haben also sehr kontrastreiche Areale mit dichtem Wald und dann wieder verlichtete Bereiche. Außerdem gibt es viel Viehzucht und Landwirtschaft. Verschiedene Wildtierarten nutzen diese unterschiedlichen Lebensräume. Die Entfernung von Holz in einigen Gebieten kann die Futtergrundlage für Hirsche und Elche verbessern.
Weitere Beispiele, wie der Mensch die Landschaft beeinflusst hat, sind der Klimawandel und die zunehmenden Waldbrände. In Nordwashington, wo ich forsche, sind in den letzten 35 Jahren über 40 % der Fläche durch Feuer verbrannt. Wir haben gerade eine umfassende Analyse darüber durchgeführt, wie Rehe und ihre Beutegreifer diese Landschaften nutzen, um zu verstehen, was Brände für diese Arten bedeuten, vor allem wenn sie heißer und größer werden.
Warum ist das Predator-Prey Project so wichtig?
Weil Großraubtiere, die sich in der Landschaft erholen, nicht nur in Schutzgebieten überleben können. Sie müssen zwischen diesen Gebieten wandern und ein Mosaik verschiedener Lebensräume nutzen, von Ranches und Wäldern bis hin zu Parks. Wir müssen also verstehen, wie der Mensch diese Dynamik beeinflusst, wenn wir sowohl die Raubtier- als auch die Beutepopulationen erhalten wollen.

Welche Bedeutung hat das Umherwandern für die Tiere?
Viele dieser Arten, vor allem große Fleischfresser, müssen viele Gebiete abdecken, um sich die benötigten Ressourcen zu sichern. Und viele Arten sind Wandertiere. Sie müssen getrennte Gebiete miteinander verbinden, die vielleicht 30, 40 oder sogar 60 Meilen voneinander entfernt sind. Sie sind von der Versorgung mit wichtigen Ressourcen abgeschnitten, wenn sie nicht von ihrem Sommerquartier in ihr Winterquartier wandern können. Diese Populationen werden wahrscheinlich zurückgehen, wenn die Möglichkeiten dieses Umherwanderns verloren gehen oder wenn sie nicht erhalten und geschützt werden.
Wenn junge oder heranwachsende Wölfe bereit sind, sich zu trennen und das Rudel zu verlassen, müssen sie in der Lage sein, ihr eigenes Gebiet zu finden. Und wir haben Wölfe in Washington, die in nur wenigen Monaten bis nach Wyoming und Montana gewandert sind. Die Möglichkeit, durch diese zusammenhängenden Lebensräume zu wandern, ist also entscheidend, damit sie überleben und neue Gebiete finden können.
Warum sind Raubtiere wichtig?
Sie tragen zur Strukturierung des Ökosystems bei, und verschiedene Raubtiere spielen unterschiedliche Rollen. Aber in erster Linie können sie dazu beitragen, die Beutepopulation niedrig zu halten, damit sie nicht überweiden und die Landschaft schädigen. Das ist nicht immer der Fall, aber historisch gesehen gibt es im amerikanischen Westen viele Gebiete, in denen die Raubtiere verschwunden sind. Dann nahm die Beutepopulation zu, es gab kein Futter mehr, und diese Population brach zusammen. Die Raubtiere helfen also, die Beutepopulation in Schach zu halten. Es gibt zwei Möglichkeiten, wie Raubtiere das tun können. Zum einen können sie Beutetiere töten und fressen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, das Verhalten der Beutetiere zu beeinflussen. Beispielsweise kann die Anwesenheit von Raubtieren zur Folge haben, dass die sich die Beutetiere bedroht fühlen und daher wachsamer sind, weniger fressen und die Lebensräume, die sie nutzen, wechseln.

Alleine die Wahrnehmung von Raubtier und Beute bei uns Menschen ist komisch. Wir scheinen das Gefühl zu haben, dass es Gut und Böse gibt, dass die Raubtiere die Bösen sind und die Beute die unschuldigen Opfer. Was hältst du davon?
Ich halte es für eine problematische Sichtweise, Raubtieren und Beutetieren menschliche moralische Werte zuzuordnen und zu sagen, dass Raubtiere schlecht oder sogar gut sind. Ich glaube, dass viele Menschen die Wölfe personifizieren, aber sie sind nur Tiere, die ihre Aufgabe im Ökosystem erfüllen. Ein Teil der Aufgabe der Beutetiere besteht darin, Futter und Pflanzen in Nahrung für Raubtiere zu verwandeln. Und ein Teil der Aufgabe der Raubtiere besteht darin, diese Beutetierpopulation zu verzehren. Diese Dinge sind dynamisch. Ich halte weder das eine noch das andere für gut oder schlecht, sondern für einen Teil des Gesamtsystems.
Die Menschen geben ihre Vorstellungen darüber weiter, wie die natürliche Welt sein und sich verhalten sollte.
Ja. Und ich denke, es ist fair, darüber zu sprechen, ob potenziell invasive oder nicht einheimische Arten gut oder schlecht für ein Ökosystem sind. Dennoch halte ich es für problematisch, den Arten einen moralischen Wert zuzuweisen.

Wie siehst du den Einfluss des Menschen auf die natürliche Ordnung und unsere Verantwortung, diese wiederherzustellen?
Ich denke, dass wir angesichts des massiven Verlusts an biologischer Vielfalt und der derzeitigen Aussterberate, die auf den Menschen zurückzuführen ist, sowohl durch die Veränderung von Lebensräumen und die Entwicklung als auch durch den Klimawandel eine große Verantwortung haben, so viele Arten wie möglich zu schützen. Und so viele Wildtiere und wilde Landschaften wie möglich. Es gibt Orte, an denen der Mensch diese Beziehungen über lange Zeiträume gepflegt hat, und viele indigene Gemeinschaften haben in diesen Umgebungen nachhaltig gelebt.
Und dann gibt es Orte, an denen der Mensch einen erheblichen Rückgang der Wildtiere verursacht hat. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um diese zu schützen, aus unseren Fehlern zu lernen, uns zu verbessern und zu versuchen, die Dinge wieder in einen nachhaltigeren Zustand zu bringen. Ich denke, es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass sich diese Arten gemeinsam entwickelt haben. Ich glaube nicht, dass wir immer eingreifen müssen, um sicherzustellen, dass das Verhältnis von einer zur anderen Art angemessen ist. Auf lange Sicht würden viele dieser Arten von alleine zurückkehren.
Hast du das Aussterben einer Population in Ihrer Region selber beobachten können?
Mit dem Aussterben habe ich mich nicht aus erster Hand beschäftigt, aber in Nordwashington gab es früher Karibus und Waldkaribus. Und in dem Zeitraum, seit dem ich forsche, sind diese letzten Karibus verschwunden.
Die Rückkehr des Wolfes und seine Auswirkungen auf das Ökosystem sind jedoch eine seltene positive Geschichte in der Ökologie. Diese Wiederansiedlung war mit vielen Herausforderungen verbunden, aber sie sind zurückgekommen, haben sich gehalten und sich in neue Gebiete ausgebreitet. Das ist also eine wirklich inspirierende Geschichte.