Microadventures

Der Alltag lähmt, die Routine langweilt, die Komfortzone lullt uns ein. Wie wohltuend kleine Ausbrüche sein können, wie einfach es ist, diesem Kreislauf zu entkommen und was es mit sogenannten „Microadventures“ nach Alastair Humphreys auf sich hat – hier der Überblick zu einem Trend, der plötzlich noch mehr Fahrt aufnimmt.

urban hiking microadventures

Um 7 Uhr klingelt der Wecker. Dann Kaffee, Frühstück, Arbeit. Abends Fernsehen. Zwei mal die Woche Sport, ab und zu Freunde treffen vielleicht. So oder so ähnlich sieht für viele Menschen der Alltag aus. Reine Routine. Die ist auch per se nicht schlecht. Im Gegenteil, sie schafft wertvolle Grenzen, wie zum Beispiel den Feierabend, bietet Verlässlichkeit, gibt unserem Leben eine Struktur, einen Rhythmus und Sicherheit. Und doch vergeht die Zeit gefühlt wie im Flug, wenn alle Tage gleich oder ähnlich ablaufen. „Psychologisch betrachtet rennt unsere Zeit nur dann so schnell, wenn wir nichts Neues erleben. Irgendwann setzt die Routine ein und verfestigt sich als Langeweile und Stagnation.“, sagt die Wirtschaftsinformatikerin und Unternehmensberaterin Saddia-Kiran Malik im Gespräch mit dem Zukunftsinstitut. „Schalten wir zu oft in den Autopilot-Modus, lähmt dies nicht nur unsere Kreativität, sondern täuscht auch unsere Wahrnehmung – und die Uhr scheint schneller zu ticken.“ 

Vor den Bildschirmen versuchen wir Verpasstes oder nicht Erlebtes zu kompensieren. Das gelingt jedoch nur bedingt, vielleicht mal zum „Abschalten“. Viel eher aber führt es auf Dauer zu Frustration, da sind sich Wissenschaftler einig. Denn die digitalen und nicht selbst erlebten Abenteuer locken uns nicht aus unserer Komfortzone, sie sind nicht real. Dabei brauchen wir selbstgelebte Herausforderungen und neue Impulse zur Weiterentwicklung. Das gelingt nicht, indem wir uns nur in gewohnten Gefilden bewegen. Doch hat nicht jeder Möglichkeiten, Zeit und Geld, alles stehen und liegen zu lassen, um auf Abenteuerreise zu gehen – oder doch?

with friends at the lakeside

Dieser Frage widmet sich seit ein paar Jahren Alastair Humphreys, britischer Abenteurer und Schriftsteller. Humphreys war beinahe schon überall auf der Welt, bereiste mehr als 60 Länder, mit dem Fahrrad und mit Booten, durchquerte arktische Eislandschaften und Wüsten, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick. Seine Fangemeinde auf den sozialen Kanälen wuchs, und so wurde auch die Frage immer lauter, wie man vielleicht mit weniger Aufwand, Zeit, Geld und Erfahrung ähnliche Dinge erleben könnte. Dieser Frage ging Humphreys nach – beziehungsweise zunächst der nahegelegenen Stadtautobahn in seiner Londoner Umgebung, und verbrachte die Nacht im Freien. Er wollte herausfinden, ob man auch direkt vor der eigenen Tür ein Abenteuer erleben kann. Und man kann! 

Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass man nicht weit weg muss, um etwas zu erleben und tolle Plätze zu entdecken – es liegt alles vor der Tür. Wenn man Abenteuer auf ein Wochenende oder eine Nacht herunterbricht, sei nur wichtig, dass man die Essenz, den Charakter eines Abenteuern beibehält. Humphreys wollte kein „light Adventure“, sondern eher eine konzentrierte Form finden. Ohne viel Vorbereitung und Planung und so simple, dass Kinder mitmachen können.

sleeping under the free sky

In seinem 2014 erschienenen Buch „Microadventures“ zeigt Humphreys Möglichkeiten auf, wie man sehr einfach aus seiner Alltagsroutine ausbrechen kann. „Insbesondere habe ich dabei an die Menschen in den Städten mit Bürojobs gedacht, von denen es inzwischen ja sehr viele gibt.“ erklärt er auf seiner Webseite. Schließlich passiere das Leben ja jetzt und nicht irgendwann. Doch immer wieder beobachtete Humphreys Menschen, die zwar gerne losgehen würden – aber genau diese Hemmschwelle des Startens nicht überwinden. „Doch was, wenn man eines Tages denkt, jetzt ist das Leben vorbei und ich habe nichts erlebt?“ Er kam deshalb zu dem Schluss: „Abenteuer ist eher eine Einstellung, als ein Erlebnis.“ Und wenn das stimmt, kann man theoretisch überall ein Abenteuer finden. 

Wie funktionieren Mikroabenteuer? 

Humphreys definiert den Begriff Microadventure in seinem Buch als ein Outdoor-Abenteuer, das jeder in seinen Alltag und seine Umgebung integrieren kann, und das wortwörtlich vor der Haustür beginnt. Es ist ein kleiner, lokaler und kostengünstiger Ausbruch aus der Komfortzone. Um dieser zu entkommen, beziehungsweise ein Gegengewicht zur „Nine-to-Five“-Routine zu schaffen, beginnt für Humphreys das Abenteuer um 17 Uhr und endet am nächsten Tag um 9 Uhr, wenn man für gewöhnlich wieder an seinem Platz sitzt und der Alltag beginnt.

walking in river sunshine

Ob man nun am Waldrand zeltet, die Stadt bei Mondschein erlebt oder mit der ganzen Familie im Garten kampiert – für viele Anhänger dieses Hobbies gehören ein paar weitere Spielregeln dazu, so auch für Christo Foerster. Der Autor und Outdoor-Experte ist begeisterter Mikroabenteurer und schreibt Ratgeber zum Thema. Für ihn dauert ein echtes Mikroabenteuer zwischen acht und 72 Stunden. Man sollte kein Auto und kein Flugzeug benutzen, keinen Müll hinterlassen und möglichst draußen übernachten – ohne Zelt. „Dadurch entwickelt sich ein Expeditionscharakter“, findet Foerster und auch für Humphreys gehört zu einem Microadventure, die Nacht draußen zu verbringen anstatt nur einen Tagestrip in die Natur zu unternehmen. Der Unterschied zwischen Wildcampen und Biwakieren ist übrigens, dass das Kampieren außerhalb eines Campingplatzes in Deutschland verboten ist, während man ohne Zelt in der freien Landschaft übernachten darf, wenn man die Schutzgebiete meidet.

Wie auch immer man nun für sich so ein Abenteuer definiert oder gestaltet, die Idee der Mini-Ausbrüche aus dem Alltag begeistert ungebrochen: Binnen weniger Stunden kletterte Humphreys Buch damals in die Top Ten der Bestsellerlisten. Und natürlich griffen weitere Autoren das Thema auf. So gab es in den vergangenen Jahren einen wahnsinnigen Hype um diese neue Art der Freizeitbeschäftigung. Bücher mit den Titeln „Raus und machen“, „Be Wild“ oder „Alltagsabenteuer“ ploppten auf, Facebook-Gruppen organisierten sich zu After-Work-Abenteuern, Achtsamkeits-Blogs gaben Tipps zur Alltagsflucht mit Abenteuer und Forscher untersuchten den Mehrwert dieser kleinen Auszeiten. „Viele Menschen haben eine Sehnsucht nach echten Erlebnissen, die sie in ihren Alltag bisher nicht integrieren konnten“, sagt Foerster in seinem Buch „Raus und machen“. Das läge auch an der Digitalisierung des Alltags. „Heute wissen wir schon morgens, dass es abends regnet, für alles gibt es eine App. Das Unvorhergesehene ist in unserem Leben nicht mehr vorgesehen.“ Kern eines echten Abenteuers ist für Foerster aber der Gedanke, an einem Erlebnis zu wachsen. Und das gelingt nur durch den echten Sprung ins kalte Wasser, durch die Möglichkeit des Zufalls und der Überraschung – eben durch Unvorhersehbares.

microadventures coffee outside

Regelmäßig aus seiner Routine auszubrechen, Dinge zum ersten Mal oder neu zu erleben führe zu einer intensiveren Wahrnehmung der Umgebung und von sich selbst. Man werde achtsamer, lerne wieder seiner Intuition zu vertrauen, „out of the box“ zu denken, behauptet auch Malik: „Microadventures katapultieren uns in die Gegenwart, lassen uns auf die positiven Dinge fokussieren, fördern unsere Konzentration, machen uns produktiver und schützen uns vor dem Ausbrennen.“ Alleine die Vorstellung, für eine Nacht seine Komfortzone zu verlassen – sowohl die äußere als da wäre das eigene Bett, als auch die Innere, zum Beispiel die Gefühle der Gewohnheit, Vertrautheit, Geborgenheit – wirft die Synapsen an und sorgt für Erregung. „Ich würde sogar sagen, desto stressiger das Alltagsleben, desto essenzieller werden Mikroabenteuer.“ sagt Humphreys. 

So geht die regionale Abenteuerlust (ganz zufällig?) auch sehr gut mit den Trends Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Umwelt und Achtsamkeit einher. Und trifft so zum einen perfekt den Zeitgeist und zum anderen einen sensiblen, kollektiven Nerv in der chronisch überlasteten Zivilisationsgesellschaft.

Doch wie lässt sich nun so ein wertvolles Abenteuer in den Alltag integrieren?

Eine Nacht unter freiem Himmel schlafen – was im ersten Moment romantisch klingt, wird bei näherer Betrachtung zur völlig verrückten Idee. Als erstes stellt sich die Frage: Wo? Und alleine oder in Gesellschaft? Apropos, was ist mit Tieren? Und weiter: Wie soll man sich betten? Es wird sicher feucht, kalt und ungemütlich. Ist es nicht sogar gefährlich? „Für den Anfang sucht man sich vielleicht ein nicht zu weit entferntes Ziel“, empfiehlt Humphreys, „schließt sich eventuell einer Gruppe an und startet bei milden Temperaturen.“ Im Grunde ginge es nicht einmal um die richtige Ausrüstung aber „ein Freund und zwei Bier erleichtern das Abenteuer.“  Die innere Einstellung, das Ziel des Trips und die Erwartungen daran bedürfen noch am ehesten einer Vorbereitung. Zum einen, um nicht beim ersten Hindernis abzubrechen aber auch, um mehr Benefit für sich herauszuholen.

Zuallererst sollte man sich deshalb überlegen, was einen begeistert, sagt Humphreys, „Das ist für jeden unterschiedlich: Manche wollen relaxen, ihren Kopf frei bekommen, andere möchten den Adrenalinrush spüren und sich bewegen. Finde heraus, wofür dein Herz schlägt.“ Viele nützliche Tipps für Mikroabenteuer, hilfreiche Equipment-Listen und Links zu Facebook-Gruppen, denen man sich anschließen kann, hält Humphreys auf seiner Seite parat.

campfire at the lake

Wir haben hier ein paar Ideen für Mikroabenteuer zusammengetragen:

Biwakieren: Das Übernachten im Freien ohne Zelt ist in Deutschland erlaubt. Man kann sich einfach in einen Schlafsack auf eine Isomatte betten, oder das ganze mit Hilfe einer Hängematte in die Luft befördern. Eine diagonale Liegeweise ist hier bequemer. Bei unstetem Wetter empfiehlt sich ein Regenschutz. Wer die Sterne beobachten möchte, sollte sich von Wohngebieten entfernen, vielleicht einen sogenannten Sternenpark, z.B. den Naturpark Westhavelland in Brandenburg, die Eifel in Nordrhein-Westfalen oder das Biosphärenreservat Rhön zwischen Thüringen, Hessen und Bayern in Betracht ziehen.

Zelten: Freies Zelten ist in Deutschland leider nicht erlaubt. Eine Alternative zum klassischen Campingplatz sind sogenannte Trekking-Camps, zum Beispiel im Spessart oder Schwarzwald: minimalistische Waldzeltplätze mit Feuerstelle, die man vorab buchen kann. Oft gibt es eine Komposttoilette und eine Feuerstelle, Verpflegung und alles weitere müssen mitgebracht werden. 

Boofen: Natürliche Felsvorsprünge in der Sächsischen Schweiz werden Boofen genannt und sind sogar offiziell gelistet. Sie bieten nicht nur Kletterern und Bergsteigern, sondern auch immer mehr Wanderern ein provisorisches Nachtlager. Auch andernorts, zum Beispiel in Pfalz, findet man solche Überhänge, die sich eignen.

Survival Camps und Bushcraft: Hier erfährt man, wie man ohne oder mit wenigen mitgebrachten Utensilien in der Wildnis zurechtkommt, ein Lager baut, ein Feuer macht, Nahrung findet und zubereitet. 

Eis- oder Regenbaden: Außerhalb der Feriensaison und bei nicht ganz so sommerlichen Temperaturen hat man den See oft für sich alleine. Bei Regen bekommt das Baden bereits einen abenteuerlichen Charakter, Eisbaden bei winterlichen Temperaturen ist ein Trend für sich. Wasserfeste Taschen für Kleidung, ein Unterstand und ein warmes Getränk können hier hilfreich sein. 

Einem Flusslauf folgen: So einfach und so effektiv. Folgt man einem beliebigen Fluss- oder Bachlauf, muss man in der Regel ein paar Hindernisse in Kauf nehmen und schlägt garantiert eine ungewohnte Route ein. 

Nachtwandern: Die Lichtverschmutzung der Stadt einmal hinter sich lassen. Mit einer Sternen-App kann man die Punkte am Himmel zuverlässig zuordnen, nicht nur die Bilder, auch Satelliten, Raketen, Meteoritenschauer und die ISS. 

Draußen Kochen (statt immer nur Picknicken): Ob mit einem Lagerfeuer, einem mitgebrachten Bunsen- bzw. Gasbrenner oder einem Dutch Oven – irgendetwas lässt sich garantiert zubereiten, von einfach bis kompliziert. Bitte aber die Regeln zu offenem Feuer bzw. Naturschutz beachten. 

Auf den höchsten Punkt in der Umgebung wandern: Klingt einfach, kann aber auch eine kleine Herausforderung sein. Den Radius bestimmt man selbst, eine Karte verrät schnell, wo sich ein Hügel oder Berg befindet und los geht’s. 

Mit Kindern im Wald ein Tipi bauen: Nichts leichter als das, man sammelt einfach das umliegende Holz und stellt es zeltartig auf. Schnell bekommen auch Kinder ein Gefühl für die Statik. Ob man hier nun Butterbrote isst oder vielleicht sogar in der Dämmerung eine Geschichte liest, kann man selbst entscheiden. 

Geocaching: Eine Art GPS-Schnitzeljagd oder Schatzsuche, bei der Anhand geographischer Koordinaten, Landkarten und GPS-Geräten ein Versteck ausfindig gemacht werden muss. Hier findet man mit etwas Glück das Geocache, ein wasserdichtes Gefäß mit einem Logbuch und einem oder mehreren kleinen Tauschgegenständen – also nicht vergessen auch etwas mitzunehmen, das man im Gegenzug hineinlegen kann.