Der Hype ums Vögelbeobachten

Eine Rohrdommel ist eine Rohrdommel ist eine Rohrdommel. Doch alles andere rund um das Bewusstsein für Vögel hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Aus „Vögel beobachten“ wurde „Birding“, was ungleich cooler klingt, und längst ist das klischeebehaftete Hobby nicht mehr kauzig, sondern hip – ja, sogar politisch!

Wenn Gefahr droht, begibt sich die Rohrdommel blitzschnell in Pfahlstellung und reckt ihren Hals steil nach oben. Dabei schaut sie weiter nach vorne, was wirklich lustig aussieht. Sie imitiert das Schilfrohr. Auch wenn das Schilf heute selten noch das dichte, alte Rohr von früher ist, sondern öfter lichtes Pampasgras. In dem immer häufiger ein Vogelbeobachter auf der Lauer liegt. Doch auch der ist nicht mehr derselbe. Hatte man beim Gedanken an den gemeinen Hobby-Ornithologen das in Stein gemeißelte Bild eines in Khaki gekleideten, weißen Middleagers vor Augen, der mit Anlocktröte und Fischerhut im Moor hockt, ist heute nicht nur der bucket hat hip, sondern der komplette Vogelfreizeitspaß, samt seiner neuen Anhängerschaft.

Doch zunächst ein paar Begrifflichkeiten: Im Unterschied zum Ornithologen, der Vogelforschung zu wissenschaftlichen Zwecken betreibt, bestimmt ein Vogelkundler Vogelarten oft schon anhand von Gesang und Spuren (wie z.B. Nest, Federn, Gewölle). Ein Vogelbeobachter dagegen kann jeder sein, der Vögel beobachtet. Vom englischen „Bird“ (Vogel) ist das „Birdwatching“ oder kurz „Birding“ abgeleitet, das dem hobbymäßigen Vogelgucken entspricht. Somit ist ein Vogelgucker heute ein „Birder“. Der Anspruch eines Birders kann lässig oder ambitioniert sein. Sogenannte Twitcher oder Spotter sind die Extremsportler unter den Birdern, für seltene Zielvogelarten reisen sie um die ganze Welt. Speedbirdern geht es zudem um Schnelligkeit, also in kürzester Zeit möglichst viele Arten vor die Linse zu kriegen. Wieder andere lassen sich ziellos treiben und vom Federvieh überraschen.

Erkennen und bestimmen möchte wohl jeder Vogelbeobachter seine Entdeckungen irgendwann, viele katalogisieren deshalb Aussehen, Funddaten und die vermutete Art – immer öfter auch per App. Wenn Vogelbeobachtungsdaten für Forschungszwecke oder den Naturschutz erhoben werden, spricht man auch von Kartierung oder Monitoring. Amateurbeobachter können ihre Daten zu diesem Zweck auch weitergeben und so mitwirken. Praktisch hierfür ist ein Fernglas, bei weiten Entfernungen ein Spektiv. Und wird zur Dokumentation eine Digitalkamera benutzt, nennt man das Digiscoping.

Aber apropos Spektiv, der Absatz dieser speziellen, teuren Beobachtungsfernrohre hat in den vergangenen Jahren rasant zugenommen, ebenso die Varianten von Vogelhäuschen und die Dichte an Nachschlagewerken für die Artenbestimmung. Zu den Vogelkundebüchern, die derzeit den Markt beflügeln, gesellen sich außerdem Romane, Gedichtbände und Bilderbücher über Vögel. Nie zuvor gab es so viele Veröffentlichungen zum Thema, war die Beliebtheit der kleinen Federfreunde so groß.

Ob man die heimischen Amseln, Drosseln, Finken und Stare wiederum besser mit Sonnenblumenkernen oder Äpfeln lockt, und wie hübsch die türkisfarbenen Beinchen der Alexandersittiche leuchten, darüber sprechen Antonia Coenen und Philipp Juranek in ihrem Podcast Gut zu Vögeln. Pro Folge stellen die beiden Hobby-Ornithologen eine Vogelart vor, ihren Gesang, ihr Verhalten, ihren Jizz (das meint den Gesamteindruck der körperlichen Merkmale) und schauen auch auf die Wiederkehr in Kunst, Musik und Popkultur. Entstanden ist der Podcast in Corona-Zeiten und wirkt gleichermaßen informativ wie improvisiert und erheiternd, allzeit zu Abschweifungen bereit. Damit haben sie einen Nerv getroffen. Immer neue Orni-Podcastst, wie zum Beispiel auch Birdbeats, poppen in den Audiodiensten auf und erfreuen sich wachsender Hörerzahlen. Und sogar der Dachverband Deutscher Avifaunisten (Zusammenschluss aller ornithologischen Verbände Deutschlands) registriert einen steten Zuwachs an Mitgliedern – um ein ganz offizielles Indiz für den Vogel-Hype zu nennen.

Kein Wunder, passt der Trend doch ganz hervorragend zu dem Wunsch der Menschen, insbesondere der Städter, mehr Zeit in und mit der Natur zu verbringen. Da wir so sehr reizüberflutet sind, mit Licht und Geräuschen, Technik und Arbeit, Social Media, Mental Loads und To-Do’s, fällt uns das Abschalten schwer. Nicht aber in der Natur. Durch die Konzentration auf die Natur vergessen wir oft alles andere und kriegen den Kopf wieder frei. Für viele ist der Weg in den Wald deshalb ein einfacherer, als der in die Meditation. Und nebenbei kann man etwas entdecken und lernen, Birdwatching also als Abschalten mit Mehrwert. Denn das Erfolgserlebnis ist garantiert, irgendeinen Vogel sieht jeder. Bei manchen Hobbi-Ornis wird zudem ein Urinstinkt geweckt: Wie auf der Jagd wird auf der Lauer gelegen und auf den visuellen Abschuss gewartet. Die meisten Birder aber beschreiben schlicht ein Glücksgefühl, dass sie beim Beobachten von Vögeln erleben.

Ein Vorteil dieser Freizeitaktivität ist, dass man sie ortsunabhängig betreiben kann. Die bekanntesten Gegenden zum Vogelbeobachten sind wahrscheinlich die Galapagos-Inseln, Afrika, Costa Rica und der Amazonas. Sturmvögel, Albatrosse und der Zug der Pinguine locken Naturliebhaber in die Arktis, ein spektakulärer Spot im Spätsommer sind die nistenden Karmesin-Bienenfresser in Sambia, während die Trottellummen auf Helgoland vom Felsen springen. Aber auch weniger bekannte Ziele wie Sri Lanka und Borneo oder näher gelegene in Europa weisen eindrucksvolle Vogelpopulationen auf. Ebenso in Deutschland lassen sich viele Vögel beobachten: Weißstörche im Sommer zum Beispiel, viele Sing-, Greif- und Wasservögel, Eulen und Falken. Im Frühjahr kommen die Zugvögel aus Afrika, Portugal, Spanien und Frankreich zum Brüten, im Herbst die aus Skandinavien zum Überwintern. Am einfachsten Vögel zu beobachten ist es sogar im Winter, wenn die blattlosen Äste freie Sicht geben. Über 40.000 Vögel von rund 130 verschiedenen Arten werden jährlich beobachtet. Neben häufigeren Zugvögeln wie der Graugans, dem Buchfink oder Kranich werden auch seltenere Arten wie Turteltauben, Schwarzstörche oder Pirole gesichtet.

Und sogar in der Stadt ist das Vogel-Hobby zum Megatrend geworden. Zum einen, da es inzwischen sogar mehr Arten zu beobachten gibt, als im Umland, was mit der fehlenden Überdüngung im urbanen Raum zusammenhängt – nicht nur Tauben, Sperlinge und Krähen findet man hier, auch Mauersegler, Schwalben, Habichte, Falken und entflohene Papageien und Sittiche zum Beispiel. Und zum andern dank eines Mannes namens David Lindo. Er nennt sich „the urban birder“ und machte genau das zum Trend. Seit über zehn Jahren predigt er das innerstädtische Vogelbeobachten und tritt als Experte auf. „Vögel zu beobachten ist definitiv cooler geworden“, sagt Lindo, und ist selbst der beste Beweis dafür. In Jeans und Sneakers wirft sich Lindo auf den Asphalt und schaut mit dem Fernglas in die Wolken, #lookup lautet sein Hashtag. „In meiner Jugend waren die meisten Vogelbeobachter noch weiße, mittelalte Männer aus der Mittelschicht“, erinnert er sich gerne in Interviews. Lindo ist schwarz, britisch-jamaikanischer Herkunft, noch entfernt von mittelalt und entspricht wirklich nicht dem Klischee-Birder. Inzwischen hat er aus seinem Hobby einen Beruf gemacht, tritt regelmäßig im TV auf, schreibt Bestseller übers Birdwatching und ist in Großbritannien und den USA ein Star.

Dank seiner spektakulären Aufnahmen, den rasant geschnittenen Videos und den vielen irren Geschichten über das Erlebte ist Vogelkunde längst nicht mehr schrullig sondern funky. Und auch in Städten angesagt: In Los Angeles lädt das Ace Hotel zum „Bird ‚n‘ Booze“ aufs Dach, in Berlin versammelt man sich zum „after work birding“ im Tiergarten und in London gibt’s ein komplettes Festival mit Streetart-Performance dem Vogel zu Ehren (wenn nicht gerade Corona ist, klar).

Lindo hat den angestaubten Trend also nicht nur seiner angegrauten Anhängerschaft entrissen, sondern ihn auch gleich in die Stadt geholt. Seitdem ist Birding nicht nur populärer, jünger und urbaner geworden, sondern auch diverser. „Birding geht heute durch alle Gesellschaftsschichten und ist einfach gut für die Seele“, sagt auch Patrick Reetz von Birding NRW und beschreibt damit ein Gefühl von Naturverbundenheit, Freiheit und Glück. Doch auch Frauen zum Beispiel gab es lange Zeit eher wenige in diesem Hobby.

Molly Adams ist eine von ihnen. Sie machte in Vogelbeobachtungsgruppen zunächst unangenehme Erfahrungen mit Mansplainern, bevor sie 2016 in New York City den ersten feministischen Birding Club der Welt gründete. Sein Logo: Der Drosseluferläufer, eine Vogelart, bei der die Weibchen das Sagen haben. Inzwischen ist die Gruppe offen für Menschen jeglicher gleichgeschlechtlichen, trans- oder asexuellen Orientierung und ethnischen Herkunft, die von der Gesellschaft nicht genügend repräsentiert werden oder schlicht einen geschützten Rahmen zum Ausüben ihres Hobbys suchen.

Ähnlich fing es mit Flock Together an, einer Birding Gruppe, die im Mai 2020 in London gegründet wurde und derzeit viel Aufmerksamkeit bekommt. Ein englisches Sprichwort besagt: „Birds of a Feather flock together“ und heißt soviel wie „Gleich und Gleich gesellt sich gerne“. Im übertragenen Sinne meint das bei Flock Together neben dem geteilten Hobby noch eine weitere Gemeinsamkeit: eine andere Hautfarbe als weiß. Das ist nicht nur eine optische Abgrenzung vom Klischee-Vogelbeobachter (der mit seinen äußerlichen und auch soziokulturellen Merkmalen nicht umsonst zur Metapher geworden ist). Es geht auch hier um einen sicheren Raum, in dem Menschen mit ähnlichen Erfahrungen zusammenkommen und sich in der Gruppe wohl fühlen.

„Wir wollten Birdwatching zugänglicher machen, insbesondere für Städter und speziell für unsere Gruppe – und für ein bisschen mehr Style sorgen.“ erklärt Olli Olanipekun, einer der beiden Gründer. Dank Instagram hatte die Gruppe einen raschen Zulauf von über hundert Teilnehmern. Sie organisieren Wanderungen von je ein paar Stunden durch Londons Parks und Naturschutzgebiete. Inzwischen gibt es Ableger in anderen Großstädten, zum Beispiel in Toronto, Amsterdam und Tokyo. Die Gruppe ist gleichermaßen offen für Neulinge wie Profis. Nötig aber ist keinerlei Erfahrung oder Ausrüstung. „Wir haben inzwischen viele Sponsoren und können Klamotten und Equipment zur Verfügung stellen, falls jemand etwas braucht. Die Eintrittsbarriere ist also absolut minimal,“ erklärt Olanipekum.

Die Priorität der beiden Gründer lag von Beginn an auf der Unterrepräsentanz von People of Color bzw. BIPoc (Black, Indigenous and People of Color) in jeglicher Outdoor-Freizeitbeschäftigung, beziehungsweise darin, das zu ändern. Für eine einzelne Person of Color sei es schon ein Kraftakt, in solch dominant weiße Gefilde wie Birdwatching vorzudringen und eventuell anschließend noch in eine Kneipe einzukehren, erzählt Nadeem Perera, der andere der beiden Gründer, in Interviews. „Oft fragte ich mich, soll ich wirklich da rein gehen? Bin ich dort akzeptiert? Oder werde ich beschimpft? In einer Gruppe sind wir stärker und bringen den nötigen Mut auf, da jedes einzelne Mitglied unsere Präsenz normalisiert. Rassismus findet in den Räumen und Gebieten statt, von denen Menschen das Gefühl haben, sie zu besitzen. Wir zeigen schwarzen Menschen, dass es in Ordnung ist, hier zu sein.“ Irgendwann ist vielleicht auch diese Gruppe offen für Menschen aller Herkunft sein, sagt Perera. Aber für den Moment sei es gut, etwas eigenes zu haben.

Auch Lindo hat rassistische Erfahrungen gemacht. Menschen wundern sich beispielsweise über ihn, als wäre das nicht sein richtiger Platz, draußen bei den Vögeln. „Wir werden immer nur dazu ermutigt, Football- oder Basketballspieler zu werden, oder R&B-Sänger. Aber nie Astronaut oder Naturforscher.“ Mit einem anderen Vorurteil räumt er auch gleich auf, dass man nämlich Experte sein muss, um Vögel zu beobachten. „Das ist alles nicht nötig. Du musst nicht wissen, wie der Vogel heißt, den du da beobachtest. Alles was du tun musst, ist rausgehen und nach oben schauen.“

Die passende Birding Gruppe ist leicht über Social Media gefunden, über aktuelle Termine in Deutschland informiert auch der NaBu regelmäßig. Ab Ende Februar ist Kranich-Saison.