1Nite Tent

Zelten abseits von Campingplätzen und Mainstream: das möchte die Plattform „1Nite Tent“ möglich machen. Sie setzt dabei auf Gastfreundschaft und die Lust am Teilen.

Wer schon einmal eine Nacht auf einem deutschen Zeltplatz verbracht hat, inklusive schnarchendem Nachbarn und Schlange stehen vor der Gemeinschaftsdusche, der weiß: es könnte so viel schöner sein. Zum Beispiel, wenn man nachts unter einem Dach aus Waldbäumen einschlafen und nichts hören würde außer dem Rauschen der Blätter. Oder morgens vom Tosen des Meeres geweckt würde und noch vor dem ersten Kaffee die nackten Füße in den Sand stecken könnte. In Deutschland ist das fast unmöglich. Wildcampen ist hier verboten. Das heißt, dass man nicht einfach in freier Natur übernachten darf, sondern immer auf einem offiziellen Platz einchecken muss.

Wie schade das ist, haben Anne-Sophie Hußler (32) und Patrick Pirl (33) erst gemerkt, als sie das Gegenteil selbst erleben durften. Das war in einem Urlaub in Schweden vor vier Jahren. In Skandinavien gilt das sogenannte „Jedermannsrecht“, das sogar über dem privaten Recht auf Grund und Boden steht. Grob gesagt bedeutet das, dass jeder übernachten darf, wo er will. Im Garten nebenan, aber eben auch mitten im Wald, am Strand, in den Bergen. Das sagt viel aus, über Vertrauen und den Umgang der Menschen miteinander – und den mit der Natur. „Wir waren erstaunt darüber, wie intakt und sauber die schwedischen Wälder sind“, erzählen Anne-Sophie Hußler und Patrick Pirl. Dass man sich frei in der Natur bewegen und sogar in ihr übernachten darf, führt also nicht dazu, dass sie zerstört wird oder verschmutzt. Sondern dass man, im Gegenteil, besonders sorgsam mit ihr umgeht. „Das Tolle am Wildcampen ist außerdem, dass Reisen dadurch viel flexibler, besonderer und entspannter werden. Zu wissen, dass man definitiv eine Übernachtungsmöglichkeit finden wird, macht vieles einfacher. Man kann sich frei im Land bewegen, ohne alles Wochen vorher planen zu müssen.“

Nach besagtem Schwedentrip kam der Wunsch auf, diesen Spirit nach Deutschland zu holen. Hußler und Pirl fragten sich: Wie können wir auch hier so individuell und unabhängig unterwegs sein, einfach zu Fuß oder mit dem Fahrrad? Schnell wurde ihnen klar, dass bei Politik und Gesetzen nicht viel zu holen ist. Der Wandel müsste von innen herauskommen, aus der Zivilgesellschaft. Es brauchte also einen Appell an Gastfreundschaft, an die Bereitschaft, Grundbesitz mit anderen Menschen zu teilen. So entstand die Idee zu der interaktiven Plattform „1Nite Tent“.

Wie Couchsurfen – nur mit Zelten

Das Prinzip ist einfach. Menschen mit einem Garten oder einer Wiese können Campern diese Plätze auf 1nitetent.com zum Übernachten anbieten. Die Gäste dürfen dort für eine Nacht ihr Zelt aufschlagen, ohne Gegenleistung. Auf einer Online-Landkarte sind alle Spots verzeichnet, mit einem Klick auf den Pin werden die Kontaktdaten der AnbieterInnen angezeigt. Dazu meist eine kurze Beschreibung, etwa: „Umsäumt von Weiden, Feldern und Streuobstwiesen liegt unser Hof zwischen den sanften Hügeln… der sächsischen Toskana… Dusche und WC gibt es im Haus.“ Oder: „Es handelt sich um eine kleine Fläche zwischen zwei Weiden, die direkt hinter dem Deich liegt. Wer sein Abendbrot auf den Deich verlegt, kann dabei Meerblick genießen…“. Meistens möchten die Gastgeber vorab kontaktiert werden, man muss also vor der Anreise eine Mail schreiben oder anrufen.

Natürlich könne man auch einen schönen Vorgarten oder Hinterhof in der Stadt anbieten. Wichtig sei aber, so Pirl, dass der Platz einladend sei, also zum Beispiel nicht an einer stark befahrenen Straße liegt. Und natürlich müsse einem das Stück Land, das man einbringt, auch wirklich selbst gehören. Bevor ein Standort online geht, checken Hußler und Pirl die Koordinaten und kontaktieren stichprobenartig die AnbieterInnen, um deren Erreichbarkeit zu überprüfen. Ansonsten sind sie auf das Feedback der NutzerInnen angewiesen, die Community reguliert sich selbst. Ein Bewertungssystem, wie man es etwa von Booking-Portalen für Hotels kennt, gibt es aber nicht.

Von Anfang an haben die beiden Gründer alles selbst gemacht, nur beim Programmieren half ein Freund. Eine Crowdfunding-Aktion floppte. Weil nebenher alle noch ihre Brötchen verdienen mussten, vergingen zwischen Idee und Launch 24 Monate. Inzwischen ist „1Nite Tent“ zwei Jahre alt und gewachsen, es gibt 445 eingetragen Plätze zum Zelten. Und die Vision reift mit: „Ursprünglich war es unsere Motivation, individuelles Reisen zu erleichtern und dezentrale Übernachtungsmöglichkeiten zu schaffen. Mittlerweile ist daraus noch eine starke soziale Komponente entstanden,“ erzählen Hußler und Pirl. Regelmäßig kommen Rückmeldungen von AnbieterInnen und UserInnen. Sie erzählen, dass sie herzlich willkommen geheißen wurden oder nette Bekanntschaften geschlossen haben. „Dass sich Fremde begegnen und eine gute Zeit miteinander haben, macht das Ganze für uns noch wertvoller.“ Denn diese positive Wirkung potenziere sich: Menschen, die Gastfreundschaft erleben, geben meist auch Gastfreundschaft zurück. Wenn Anne-Sophie und Patrick auf ihre Website schauen, sehen sie nicht einfach eine interaktive Landkarte – sie sehen ein Netz aus teilenden, weltoffenen Leuten. Das ist es, was sie immer wieder zum Weitermachen anspornt. 

Und natürlich geht es auch darum, die Welt ein Stückchen besser zu machen. „Wir verstehen uns absolut als Beitrag zum nachhaltigen Reisen, auf kurzen Wegen, nicht unbedingt immer weit fliegen zu müssen.“ Auch direkt vor der eigenen Haustür warten Abenteuer. „Mikroabenteuer“ nennen Hußler und Pirl das: „In unmittelbarer Nähe warten kleine Begegnungen, Augenblicke und Geschichten, die erlebt werden wollen. Man muss sich nur aufs Rad schwingen oder loslaufen.“

Im Pandemie-Sommer 2020 bekam das noch einmal einen ganz neuen Stellenwert. Die Zugriffszahlen stiegen, auf einige AnbieterInnen um Berlin herum und an Ost- und Nordsee war der Ansturm so groß, dass ihre Einträge auf Wunsch der Landbesitzer vorläufig von der Seite genommen werden mussten. Hußler kann verstehen, dass die Menschen aus den Städten raus wollten, sich nach der Natur sehnten. Unter „normalen“ Umständen verteile sich das Interesse an den Plätzen aber sehr gut, wobei die Nähe zum Meer immer beliebt sei.

Nächster Schritt: Europa

Der Traum von Anne-Sophie Hußler und Patrick Pirl ist es, „1Nite Tent“ überall dort erfolgreich zu machen, wo Wildcampen verboten ist. Schon jetzt gibt es auf der Karte erste Spots außerhalb Deutschlands, in Irland und Österreich, sogar einen auf Teneriffa. Mit ähnlichen Start-ups, etwa dem Open-Source-Projekt „Welcome to my Garden“ aus Belgien, stehe man im Austausch. Die gemeinsame Vision verbindet.

Die beiden Gründer und ihr Programmierer arbeiten unterdessen noch immer ohne Gewinn und quasi ehrenamtlich. Serverkosten können sie durch Spenden ausgleichen. Einzelne Projekte setzen sie mit Förder- und Preisgeldern um, aktuell entwerfen sie zum Beispiel einen Prototyp für ein stationäres Zelt. Für größere Investitionen oder strategisches Wachstum fehlen allerdings die Mittel. Denn auf keinen Fall soll die Plattform kommerziell werden oder für die NutzerInnen etwas kosten. Also wächst die Community von „1Nite Tent“ bis auf Weiteres so, wie jede gute Community wächst: von ganz allein.